Seit 35 Jahren vor Ort: Rumänienhilfe im Kreis Bihor

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Mit den Kindern von Cighid hatte es angefangen. Strukturen und Kontexte mussten verändert werden, damit Menschen mit Behinderung menschenwürdig leben konnten. Jetzt sind wir auf dem Weg in die Selbstbestimmung und zur Stärkung der Rolle in der Gesellschaft. In Rumänien, in Deutschland, in ganz Europa.

„Annebek, Annebek …“, die Wiedersehensfreude ist riesengroß, als wir am „Heim“ in Cadea in Rumänien, nahe der Provinz Bihor, ankommen. Rund 30 Menschen mit Behinderung leben hier. Ehemals eine Einrichtung der Rumänienhilfe, ist das „Heim“ nun unter staatlicher Führung zurückgekehrt. Die meisten Bewohner*innen, so die Unterstützer*innen der Rumänienhilfe Alsterdorf, leiden unter der neuen Trägerschaft. Das Essen ist schlecht, die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung gering. 

Dass die Deutschen wieder da sind, hat sich schnell rumgesprochen und 15 bis 20 Bewohner*innen kommen zur Begrüßung angestürmt. Ihre Heldin ist Anne Becke, die bei Leben mit Behinderung Hamburg u. a. im Bereich Freiwilliges Engagement in Bergedorf tätig ist. „Annebek“ arbeitete in den 90er Jahren für zwei Jahre in Cadea und kommt seitdem mehrmals im Jahr mit Gruppen zurück. Aber auch wir Neuen werden herzlich empfangen. „I love you, I love you!“, tönt es immer wieder. Wir werden eingeladen, die Wohnunterkünfte zu besuchen. Zwei oder drei Betten, Holzverkleidung, kaum persönliche Gegenstände – sie putzen jeden Tag. Auch das sieht man. 

„Ihr seid in einer instabilen Zeit mit Herausforderungen gekommen. Dass ihr noch hier seid, zeigt, dass ihr alles mit sehr viel Liebe macht“, lobt der zweite Bürgermeister der Stadt Oradea die Arbeit der Rumänienhilfe bei der Jubiläumsveranstaltung zu 35 Jahren Engagement am 29. Oktober in der Neuen Synagoge in Oradea, der Hauptstadt des Kreises Bihor.

Die Rumänienhilfe, einst gestartet als direkte Reaktion auf die grausamen Bilder aus den Kinderheimen aus Cighid nach dem Sturz des Ceauşescu-Regimes, hat vieles erreicht für die Kinder aus Cighid und die Menschen mit Behinderung aus der Region Bihor. So betreibt die Associatia Alsterdorf dort Wohn- und Arbeitseinrichtungen für Menschen mit Behinderung sowie Treffpunkte und ambulante Unterstützung. Einige der ehemaligen Cighid-Kinder leben selbstbestimmt in der eigenen Wohnung. Sie haben Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wobei man erwähnen muss, dass es einen subventionierten Arbeitsmarkt, wie bei uns die Werkstätten, in Rumänien nicht gibt.

Bei der Gedenkveranstaltung wird sehr deutlich, wie wichtig das Engagement der einzelnen, aber auch die der Organisation, war. Denn ohne Strukturen kann auch die Arbeit der einzelnen nicht wirksam werden. Von Leben mit Behinderung Hamburg sind es vor allen Dingen Anne Becke und Mathias Westecker: Sie unterstützen seit den 90er Jahren, gemeinsam mit anderen, die Rumänienhilfe vor Ort und in Hamburg. Ging es in den Gründungsjahren erst einmal darum, menschenwürdige Bedingungen zu schaffen, ist die Rumänienhilfe heute inklusiv und selbstbestimmt aufgestellt. „Wir brauchen alle das Recht zu wählen“, betont Emil Cuc, Geschäftsführer der Associatia Alsterdorf, in seiner Rede.

Emotionaler Höhepunkt des Jubiläums war sicherlich die Ehrung vieler Weggefährten der Rumänienhilfe durch die Mitarbeitenden der Associatia Alsterdorf. Dabei muss man Michael Wunder herausstellen, der dem Verein Rumänienhilfe seit 35 Jahren vorsteht. Auch Anne Becke und Mathias Westecker, stellvertretend für Leben mit Behinderung Hamburg, wurden für ihr Engagement mit Freiwilligen vor Ort geehrt.

Die Menschen mit Behinderung standen im Mittelpunkt bei der Gedenkveranstaltung, doch sie kamen nach meinem Verständnis ein wenig zu kurz. In Bihor gibt es eine Interessenvertretung nach deutschem Vorbild. Im Sommer waren Selbstvertreter*innen in Hamburg und auch zur Gedenkveranstaltung in Oradea waren Interessenvertreter*innen von Leben mit Behinderung Hamburg eingeladen. Sie kamen zu Wort, kurz. Annika Albers aus Hamburg konnte betonen, dass es „nicht ohne uns über uns“ gehe und Iosif Balog aus Oradea sagte, dass er froh sei, dass alles gekommen ist, so wie es jetzt ist. Es tat gut, dass Katrin Langensiepen als Vertreterin des europäischen Parlaments den Faden der Selbstvertreter*innen aufnahm und von ihren Erfahrungen als Frau mit Behinderung und ihren Eindrücken als Kind berichtete, als sie die Bilder aus Cighid sah. So wichtig und beeindruckend diese Veranstaltung war, zeigte sie aber auch, wie Emil Cuc es formulierte: „Unsere Arbeit fängt erst an. Nicht nur in Oradea, nicht nur in Rumänien, sondern in ganz Europa.“

Stefanie Könnecke


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Gruppenbild von Menschen mit Behinderung und Unterstützer*innen aus Bihor/Rumänien